
Experten Interview: Betrieblichen Gesundheitsmanagement
Betriebliche Gesundheitsförderung: Chancen und Nutzen
Laut dem aktuellen TK-Gesundheitsreport hat sich der Trend steigender Fehlzeiten 2015 fortgesetzt. Schuld daran war aber nicht nur eine große Grippewelle; auch die psychische Belastung macht vielen Berufstätigen zu schaffen.
„Die Reporte der Krankenkassen sind heutzutage alarmierend, was die Zunahme an psychischen Erkrankungen betrifft“, findet Heike Grethlein, die Unternehmen seit vielen Jahren zu Themen der Gesundheitsförderung berät. Die Einführung eines Betrieblichen Gesundheitsmanagement kann helfen, die Unternehmenskultur und die Arbeitsverhältnisse zu optimieren und so langwierigen Ausfällen von Mitarbeitern vorzubeugen sowie Burnout zu verhindern.


BGM – Was ist das?
Was versteht man eigentlich unter einem Betrieblichen Gesundheitsmanagement, kurz BGM? Heike Grethlein erklärt: „Das BGM kannst Du dir als Dach vorstellen, das von drei Säulen getragen wird: dem Arbeits- und Gesundheitsschutz, der Betrieblichen Gesundheitsförderung und dem Betrieblichen Eingliederungsmanagement.“
Die erste Säule richtet sich nach dem Arbeitsschutzgesetz, das die Einhaltung von Sicherheitsmaßnahmen und Vermeidung von Gesundheitsschäden am Arbeitsplatz regelt.
Die zweite Säule betrifft die Maßnahmen zur Betrieblichen Gesundheitsförderung, wie beispielsweise Schulungen, Vorträge, Teamevents oder Fitnesskurse.
Die dritte Säule, das betriebliche Eingliederungsmanagement, soll einer erneuten Arbeitsunfähigkeit vorbeugen, wenn Mitarbeiter „innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig“ (§ 84 Abs. 2 Sozialgesetzbuch SGB IX) waren.
Komplexes BGM: Mehr als Team-Events und Yoga-Kurse
„Das Thema Betriebliches Gesundheitsmanagement ist sehr komplex“, wendet Heike Grethlein ein. „Es sollte aber auch in seiner ganzen Komplexität wahrgenommen werden.“ Die Expertin sieht es sehr kritisch, dass das Betriebliche Gesundheitsmanagement häufig auf wenige Maßnahmen wie das Angebot von Yogakursen, Vorträgen oder Team-Events reduziert wird: „Das kann man nicht als BGM bezeichnen, denn das Angebot von gesundheitsfördernden Maßnahmen ist nur ein kleiner Teilaspekt davon.“
Unternehmen müssten sich bewusst sein, „dass das Betriebliche Gesundheitsmanagement in die Unternehmenskultur eingreift und diese verändert. Es sorgt gewissermaßen für die Strukturen, die nötig sind, um die Unternehmenskultur zu steuern.“


Nicht nur das Verhalten, sondern auch die Verhältnisse optimieren
Damit weist Grethlein auf zwei wesentliche Gesichtspunkte des BGM hin: „Unternehmen, die sich mit dem BGM ernsthaft auseinandersetzen, müssen sowohl die Verhaltens- als auch die Verhältnisebene berücksichtigen“.
Die Verhaltensebene betrifft Maßnahmen, die das Gesundheitsverhalten der Mitarbeiter beeinflussen sollen, wie etwa Vorträge und Workshops zu gesunder Ernährung, Rückenschul- oder Yogakurse, Teambildungsmaßnahmen und vieles mehr.
Ebenso wichtig ist aber die Verhältnisebene, also das Arbeitsumfeld und die Arbeitsbedingungen: „Auch die Arbeitsplatzumgebung muss stimmen, damit ein Mitarbeiter sein Potenzial voll entfalten kann“, betont Grethlein.
Ein autoritärer Führungsstil, geringe Wertschätzung für die Mitarbeiter und ihre Leistungen, Probleme bei der internen Kommunikation – solche gesundheitsbelastenden Aspekte sollten im Rahmen eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements ausgeräumt und die Unternehmenskultur verbessert werden. „Das Angebot von Fitnesskursen allein reicht nicht – wenn ein Unternehmen die physische wie psychische Gesundheit seiner Mitarbeiter fördern will, muss auch die Unternehmenskultur stimmen“, so Grethlein.
Erfolgreiche Umsetzung des BGM
Soweit zur Theorie. Doch wie können kleine und mittlere Unternehmen ein Betriebliches Gesundheitsmanagement einführen?
Ein neues Bewusstsein auf Führungsebene
Zunächst ist es laut Gesundheitsexpertin Heike Grethlein wichtig, dass „die Geschäftsführung und die Führungskräfte lernen, hinzuhören und sich zuständig zu fühlen“. Das BGM schaffe die Strukturen dafür, dass ein neues Bewusstsein auf Führungsebene entsteht und Führungskräfte für die gesundheitsförderliche Gestaltung des Arbeitsumfeldes verantwortlich sind.
Keine Zeit für Betriebliche Gesundheitsförderung?
Ein häufiges Problem, mit dem sich KMU bei der Einführung eines betrieblichen Gesundheitssystems konfrontiert sehen, ist der Zeitmangel: „Die Personalleiter beschäftigen sich in der Regel mit sehr vielen unterschiedlichen Themen, sodass das Thema Betriebliche Gesundheitsförderung oft aus Zeitgründen auf der Strecke bleibt“, weiß Grethlein aus Erfahrung, ergänzt aber, dass sich aus dem BGM auch zahlreiche Synergieeffekte für andere Themen ergeben. Der Aufwand, der in die Umsetzung des BGM gesteckt wird, lohnt sich also langfristig durchaus.“
Wenn beispielsweise im Zuge des BGM flachere Hierarchien entstehen und Mitarbeitern mehr Mitsprache eingeräumt wird, steigt ihre Motivation, sie bringen sich stärker in das Unternehmen ein und sorgen für dessen positive Entwicklung. Das BGM erreicht somit nicht nur, dass weniger Mitarbeiter aus Krankheitsgründen ausfallen, sondern hat positive Effekte auf die Unternehmensorganisation im Gesamten.
Gut Ding braucht Weile: Zunächst Strukturen aufbauen
Auf die Schnelle lässt sich das Betriebliche Gesundheitsmanagement jedoch nicht umsetzen. „Die Unternehmen müssen zunächst die nötigen Strukturen aufbauen, bevor sie gesundheitsfördernde Maßnahmen umsetzen können. Außerdem braucht es innerhalb des Unternehmens, auch auf Führungsebene, eine Haltungsänderung, die sich über längere Zeit entwickeln muss“, betont Grethlein. „Wichtig ist daher, von Anfang an ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Umsetzung eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements Zeit erfordert.“
Die passenden Maßnahmen für das eigene Unternehmen finden
Wenn es daran geht, die richtigen Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zu finden, sollten KMU immer ihre Mitarbeiter im Blick haben: „In einem Startup mit einem jungen Team kommen Team-Events, Kickern in der Mittagspause und Ähnliches gut an, aber das ist nicht für jedes Unternehmen der richtige Ansatz.“
Als ein Problem sieht Heike Grethlein außerdem die „Schere zwischen dem, was nach außen vermittelt wird und dem, was tatsächlich im Unternehmen gelebt wird. Wenn ein Unternehmen Audits oder Events anbietet, klingt das zwar vielversprechend, aber wenn die Arbeitsbedingungen schlecht sind und Mitarbeiter sich nicht gut behandelt fühlen, werden solche Maßnahmen nicht fruchten. Die Frustration bei den Mitarbeitern ist in solchen Fällen sehr hoch, weil sie das Gefühl haben zur Selbstoptimierung verpflichtet zu sein, während sich an der Unternehmenskultur nichts ändert“.
Einführung eines BGM Schritt für Schritt
Die Gesundheitsexpertin weiß, welche Schritte nötig sind, um das BGM zum Laufen zu bringen:
1. Ziele abstecken
Zunächst gilt es, die Ziele des BGM abzustecken. Dazu sollte sich ein Arbeitskreis aus der Unternehmensleitung, der Personalleitung, der Arbeitssicherheitsfachkraft, Interessensvertretern der Angestellten sowie möglicherweise der Betriebsarzt zusammenfinden und die Frage erörtern, was durch das BGM erreicht werden soll.
2. Laufende Maßnahmen prüfen
Sind die Ziele festgelegt, muss geprüft werden, welche Maßnahmen bereits laufen und worauf das BGM möglicherweise aufbauen kann. Bietet das Unternehmen bereits flexible Arbeitszeitmodelle? Was wird für ein positives Betriebsklima getan?
3. Analyse vorhandener Daten
Anschließend geht es an die Auswertung aller vorhandenen Daten. Hier kann das Unternehmen auf Fehlzeiten-Analysen, Krankenkassenberichte oder Mitarbeiterbefragungen zurückgreifen.
Aus den Ergebnissen der Analyse kann das Unternehmen Maßnahmen ableiten, die sinnvoll sind, um das Gesundheitsverhalten der Mitarbeiter sowie die Arbeitsplatzverhältnisse zu optimieren.
4. Kickoff
Dann kann es losgehen! Als Kickoff empfiehlt Heike Grethlein in Zusammenarbeit mit den Krankenkassen einen Gesundheitstag im Unternehmen zu veranstalten: Workshops, Infostände, Sportkurse oder Seh- und Hörtests können beispielsweise helfen, die Mitarbeiter für Gesundheitsfragen zu sensibilisieren und ein Grundverständnis für die Betriebliche Gesundheitsförderung zu entwickeln.
Wer Dich bei der Umsetzung des BGM unterstützt
Die Einführung eines BGM ist ein komplexer Prozess. Daher solltest Du dir Hilfe von außen holen. Dafür kommen zum einen die Sozialversicherungsträger (Krankenversicherung, Unfallversicherung) in Frage, zum anderen Dienstleister wie Unternehmensberatungen, Gesundheitsberater, Gesundheitszentren, Physiotherapeuten usw.
Ausblick und weiterführende Informationen
Bei ihrer Arbeit für verschiedene Unternehmen hat Gesundheitsexpertin Grethlein festgestellt, dass in Unternehmen mittlerweile ein zunehmendes Verständnis für die Bedeutung des Betrieblichen Gesundheitsmanagements vorhanden ist. Für die Zukunft erhofft sie sich, dass Gesundheit zu einem tragenden Thema für Unternehmen wird.
Dabei geht es ihr nicht allein um die körperliche Gesundheit, vielmehr müsse Gesundheit ganzheitlich gedacht werden: Neben der körperlichen, der psychisch-geistigen und der sozialen Dimension von Gesundheit berücksichtigt die Expertin auch die spirituelle Dimension. Sie ist der Ansicht, dass es für unsere Gesundheit auch wichtig ist, uns Zeit für Sinnfragen zu nehmen: Warum tue ich etwas? Was sind meine Werte? Was ist mir wichtig?
Allen Interessierten empfiehlt sie das Buch Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit von Frederic Laloux, in dem der Autor inspirierende neue Wege zur Unternehmensorganisation aufzeigt.
Weitere hilfreiche Informationen rund um die Themen BGM und Gesundheit am Arbeitsplatz bieten beispielsweise
- die Initiative für eine neue Qualität in der Arbeit (INQA)
- das Bundesministerium für Gesundheit
- die Plattform „Gesunde KMU“
- das Deutsche Netzwerk für Betriebliche Gesundheitsförderung (DNBGF).
Wir bedanken uns bei Heike Grethlein sehr herzlich für das aufschlussreiche Interview!
Heike Grethlein
Heike Grethlein ist Expertin für Gesunde Arbeit und Neues Bewusstsein im Business. Sie berät Unternehmen rund um die Betriebliche Gesundheitsförderung, erstellt Analysen und hält Vorträge und Trainings.
Mehr zu Heike Grethlein erfährst Du auf ihrer Website sowie auf ihrem Twitter-Profil.
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